Donnerstag, 2. Oktober 2014

We are getting used to it... und noch viel mehr

Im Restaurant: „How is the food? Very spicy, right?“ „Yes“, meinten wir, Elli mit Tränen in den Augen, „but we are getting used to it.“ -

Unzählige Male antworteten wir in den ersten Wochen mit diesem Satz. Denn an so vieles muss man sich am Anfang gewöhnen. Und als ich vor einem Monat immer wieder diese Antwort gab, dachte ich das tatsächlich: Klima, Kleidung, Essen... klar, es ist alles anders und vieles ungewohnt, aber ich würde für acht Monate schon irgendwie damit klarkommen. Man gewöhnt sich an alles. Dachte ich.

Mittags, in der Sonne, auf der Straße: „How is the climate for you? It´s too hot for you?“ „Oh, it´s really hot... but no problem, we are getting used to it.“ -

Und dann vergingen die Tage und Wochen, langsam stellt sich eine Routine ein und all das am Anfang Fremde wird nicht nur Teil des Alltags, sondern etwas, das ich jeden Tag genießen kann: Morgens in die zwar langen, aber dafür luftigen und bunten Chudidas; das Frühstück ist bereits würzig bis scharf, aber unglaublich lecker; zum Büro geht es durch das spannende Verkehrschaos, Autos, Rikschas, Tausende von Motorrädern und am Lemon Juice Stand vorbei, wo wir kurz mit dem Verkäufer schwatzen; wenn es zu heiß wird, wird der Ventilator angemacht und wenn Stromausfall ist, macht man halt mal Pause bei Kerzenschein. All das, was ich am Anfang noch ER-lebte, staunend und begeistert aufnahm, beginne ich allmählich – und darüber staune ich noch viel mehr - zu leben und zu genießen.

Vieles wird hier anders gemacht, aber anders heißt ja nicht automatisch schlecht. So lerne ich. Lerne, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und versuche, dadurch manches besser zu verstehen.

Als Evas Fieber uns für ein paar Tage getrennt hat, habe ich Putzen, Waschen, Haushalt auf Indisch von unserer Mentorin gelernt. Der Boden wird jeden morgen geputzt, so gegen sieben Uhr, an zwei bis drei Tagen in der Woche wird ordentlich durchgewischt. Das mag einem erstmal viel vorkommen, doch der Boden hat hier auch einfach einen anderen Stellenwert. In den indischen Häusern, sieht man selten viele Möbel – und am wenigsten Tische. Zusammensitzen und arbeiten, kochen und essen, im Bad waschen, schlafen und spielen – kurz, das gesamte tägliche Leben spielt sich größtenteils auf dem Boden ab. Und so versteht man auch, warum so gründlich geputzt wird und nichts herumliegen soll. Nicht aus Überempfindlichkeit, sondern aus dem gleichen Grund, weshalb wir den Tisch abwischen oder unser Bett machen. Auch wir wollen nicht an einer schmutzigen Arbeitsplatte kochen oder an einem unordentlichen Schreibtisch sitzen.

Bei all dem Neuen bin ich dann immer umso überraschter, wenn ich plötzlich Gemeinsamkeiten entdecke. Sei es nur, dass die Kartoffeln auf die gleiche Art geschält werden, wie die Oma es auch immer macht oder die Schulkinder genauso viel Lust zum Lernen haben, wie wir vor ein paar Monaten noch – wie schön, dass es hier genauso ist.

Wir sitzen im Auto auf dem Weg nach S. Pudur gemeinsam mit zwei anderen Mitarbeitern. Sie sind die ganze Zeit an ihren Handys. Einmal werden beide gleichzeitig angerufen und sprechen in die Telefone. Das ständige Telefonieren und dass man jemanden sofort anruft, wenn man ihn sprechen will, sind wir nicht gewöhnt. Auch dass man den Anruf immer annimmt, egal in was für einem Gespräch man gerade steckt. Aber all diese Kommunikation ist auch schön und praktisch... „We are getting used to it.“ -

Und dennoch gibt es immer wieder Dinge, an die ich mich schwer gewöhnen können, bei denen es nicht leicht fällt, sie zum „Alltag“ hinzuzufügen. Wenn wir auf dem Heimweg eine Frau unter einer Kühlerhaube schlafen sehen, oder ein Kind aus dem Day Care Center aus einer kleinen, ärmlichen Lehmhütte hüpfen, kann ich das noch nicht einfach schlucken. An den Anblick der Armut kann ich mich gewöhnen – schneller, als ich eigentlich möchte - ,doch das Gefühl von Hilflosigkeit, das damit einhergeht, kann ich nur immer wieder versuchen herunterzuschlucken.

So verdaue ich langsam die ersten Eindrücke und aus der Fremde wird ein echtes Zuhause.

Man hört auf, das „Andere“ immer sofort und direkt damit zu vergleichen, wie es in Deutschland ist sondern lernt, es einfach anzunehmen. Mit dem Bewusstsein, dass es seinen guten Sinn hat, selbst wenn ich ihn nicht immer sofort ganz verstehe.

Und letztendlich kann ich sagen: ja, „we are getting used to it“. Aber eigentlich ist es mehr als einfaches Gewöhnen. Es ist ein Einsteigen und Annehmen einer anderen Kultur, einer anderen Welt, die aus vielen Puzzleteilen besteht. Das ganze Puzzle werden wir vermutlich nie ganz sehen, wenn es denn existiert. Aber ich will und soll auch gar nicht puzzeln, sondern das Chaos aufnehmen und versuchen, anhand der kleinen Details ein Stück vom „großen Ganzen“ zu verstehen – und kann mich so hier wirklich zuhause fühlen.

Wieder auf der Straße, an einer großen Straßenkreuzung: „So much traffic right? Not like in Germany.“ Motorräder brausen hupend vorbei. „You are right, it´s much. But... we are getting used to it.“ -

Das sind natürlich alles nur meine persönlichen Meinungen und Gefühle, Einschätzungen und Gedanken, die man nicht allgemein sehen darf.

Liebe Grüße, Elli

5 Kommentare:

  1. Genial geschrieben. GSHEC ist begeistert und kann es absolut nachempfinden.
    Von euch kann man bestimmt noch viel tolles lesen. Wir freuen usn drauf! :)

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  2. Sehr ausgewogen und differenziert! Schön, dass wir deine Gedanken teilen dürfen!

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  3. Großartig :)
    Dein Text hat mich zurück erinnert, ich bin eure begeisterte Leserin ;)
    Ruth

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  4. elli, ich find' es toll, wie du damit umgehst. das ist echt schön geschrieben!
    ich vermisse dich - wir vermissen dich!! :)
    ganz liebe grüße, berni ;)

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  5. Toller Beitrag: Gaensehaut! Vielen Dank dafuer, dass du mich an meine eigenen Erfahrungen erinnerst!
    Lg, Simon

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